Passion Jesu von Nazareth als „Amnodie“

Zum 200. Jubiläum der Höritzer Passionsspiele (Hořické pašijové hry)
(1816 – 2016)

Autor: Mons. prof., Dr. Karel SKALICKÝ, Th.D.
Übersetzung: Marta Rynešová

1. Dreimal unterbrochene zweihundertjährige Tradition
Seit zwei hundert Jahren wird hier in Höritz die Theaterdarstellung der Geschichte von Jesus Christus gespielt, die PASSIONSSPIEL genannt wird. Die zwei Jahrhunderte waren jedoch nicht ganz ohne Unterbrechungen. Dazu kam es aber nicht im 19. Jahrhundert, sondern erst im 20. Jahrhundert. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Kontinuität der Veranstaltungen dreimal abgerissen; und zwar durch drei Kriege; durch die zwei Weltkriege und dann durch den dritten, der sich die Bezeichnung „kalter Krieg“ verdiente.
Es ist wirklich bemerkungswert, dass diese drei „Zornstürme“, die das zwanzigste Jahrhundert durchrasteten, vermochten zwar die Kontinuität der Passionsspiele unterbrechen, sie konnten sie aber nicht unterdrücken. An der Zähigkeit dieser Tradition zeigt sich klar, dass der Geist, in dem diese Kriege geführt wurden, hat sich mit dem Geist der Passionsspiele nicht vertragen und verträgt sich nicht. Schon deswegen lohnt es sich, eine Frage zu stellen: Was sind die Passionsspiele eigentlich? Ist es eine Tragödie oder eine Komödie, oder ist es etwas, was die beiden Theatergenres überragt? Und unter welchen Umständen waren sie eigentlich geboren? Und warum erst im 14. Jahrhundert, wie wir leicht in den Enzyklopädien erfahren können? Also zuerst:

2. Warum entstanden die Passionsspiele so spät?
Die Geschichte Jesu schloss sich im Jahre 30 unserer Zeitrechnung ab und sie wurde sofort zu Inspiration von vielen literarischen Schilderungen, sodass die frühe Kirche gezwungen wurde, in der Vielfalt der Jesus betreffenden Literatur vier Schriften zu wählen, in denen sie die treueste Beschreibung sowohl der Lehre Jesu, als auch seiner Lebensgeschichte gesehen hatte, und zwar die uns bekannten Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Wenn es also über Jesus seit Anfang unserer Zeitrechnung so viel Literatur gab, warum wird seine Geschichte erst nach mehr als einem Jahrtausend zum Theaterstück? Warum passierte es nicht gleich? Das Theater war doch schon längst vor Christus zu gut bekannt? Wieso, dass zusammen mit den vier Evangelien nicht auch die Passionsspiele entstanden? Wäre es nicht auch eine gute Evangelisierung gewesen? Versuchen wir, eine Antwort zu suchen.
Diese Antwort können wir in dem Unterschied suchen, der damals zwischen der griechischen und der hebräischen Seele existierte, die auch am Anfang auch die christliche Seele tief bestimmt hat. Fragen wir also, worin dieser Unterschied der beiden Mentalitäten bestand? Es gibt Forscher, die diesen Unterschied darin sehen, dass der Grieche vor allem sehen wollte, er hatte also die visuelle Mentalität, während dem Juden es vor allem darum ging, zu hören, so dass seine Mentalität vorwiegend auditiv war. Und diese Forscher – um diesen Unterschied zu verdeutlichen - weisen dann auf griechische Denker hin, die alle das Sehen bevorzugten. Herakleitos behauptete, dass das Sehvermögen uns sicherere Erkenntnisse bietet als das Gehör. Herodot vermutete, dass man sich weniger auf das Gehör verlässt als auf das Sehvermögen. Empedokles erklärte, dass das Sehvermögen und der Tastsinn die Hauptmittel sind, durch die das menschliche Herz zur Sicherheit gelangt und Platon hielt das Sehvermögen für den mächtigsten von allen Sinnen. Und so schreibt Aristoteles in seiner Metaphysik, dass wir „den Sehvermögen fast allen anderen Sinnen vorziehen“ (Buch 1, Artikel 1). (1)
Die jüdische Seele sei im Unterschied von den visuellen Griechen eher auf das Gehör gerichtet worden. Die Propheten von Israel haben das Gottes Wort vor allem gehört. Und als sie es verkündigten, dann wandten sie sich an das Volk mit dem Aufruf: Höre, Israel! Deswegen betet auch jeder orthodoxe Jude täglich Sch´ma Israel, höre, Israel. Und der schlimmste Vorwurf, mit dem sich die Propheten sowohl an den König als auch an das Volk wendeten war es, dass Israel nicht hört. Das Erkenntnis sei von der hebräischen Seele nach dem Modell des Hörens verstanden worden, und nicht des Sehens. Weise würden wir nicht durch Sehen, auch wenn das Sehen sehr geistlich wäre, sondern nur durch das Hören des Wortes Gottes, dem wir im Gesetz Mose, Propheten und in den inspirierten Schriften begegnen. Übrigens, Gott der Hebräer selbst ist unsichtbar und nicht abzubilden. Du sollst dir kein Gottesbild machen, verbietet der Dekalog.
Die griechischen Götter wurden jedoch oft sichtbar gemacht, und zwar sowohl von Bildhauern, als auch von Malern. Sehr beliebte Subjekte der künstlerischen Darstellung waren der besonders schöne Gott Apollo und die reizvolle Göttin Afrodite. Dagegen Jahwe, der Gott der Hebräer, verbot irgendwelche seine Darstellung, so dass sich die Frage eindringt, ob Jahwe, Gott Israels nicht darstellbar wurde, weil die Juden auditiv waren, oder umgekehrt, ob die Juden auditiv wurden, weil Jahwe ihnen verboten hatte, ihn darzustellen. Die Antwort auf diese Frage überlassen wir jedoch den Religionisten. Ich vermute, dass die Juden auditiv wurden, weil Jahwe ihnen verboten hatte, ihn darzustellen.

3. Griechisches Theater ist wesentlich mit dem Sehen verbunden
Gegen solche übermäßige Betonung des Unterschiedes zwischen der griechischen und der hebräischen Seele kann man zwar einwenden, dass sowohl der Grieche, als auch der Jude in dem gleichen Ausmaß an das Sehvermögen und an den Gehörsinn angewiesen waren, was nicht zu leugnen ist. Wir können jedoch nicht eine ganz evidente Tatsache vermeiden, und zwar, dass die Griechen ein Theater gebildet haben, wobei die Juden nicht. Die haben sicher höchst interessante Kulturwerke gebildet, vor allem Literatur aller Art. Sie haben jedoch kein Theater wie die Griechen gebildet. Sie haben zwar manche hervorragenden Literaturdarstellungen von verschiedenen dramatischen Geschichten geschaffen, womit sie sie leserlich und hörbar gemacht haben. Sie haben sie jedoch nicht szenisch sichtbar gemacht. Und wenn wir uns die Frage warum stellen, dann bietet sich eine einzige kohärente Antwort, die lautet: Weil sie vor allem an Hören orientiert waren, wobei der Platz, wo griechische Tragödien und Komödien gespielt wurden, war zum Sehen bestimmt. Das Hören war dort nur begleitend. Das Theater wurde zum Theater nicht zufällig genannt. Das Theater ist nämlich der Platz, wo wir die gespielte Geschichte sehen. Das griechische Wort theatron = Theater ist deswegen mit theasthai, beziehungsweise theorein, also mit dem Sehen verbunden. Die hebräische Literatur gelang daher nie zu ihrer Theaterdarstellung. Sie hatte sicher bewundernswerte prophetische und zugleich poetische Gestalten, aber sie hatte niemanden, der den Schöpfern der griechischen Tragödie, wie Aischylos, Sophokles und Euripides ähnlich gewesen wären, oder den Schöpfern der Komödie, wie Aristofanes und Menandros waren.

4. Das Theater zwischen der Tragödie und Komödie
Stellen wir uns jedoch vor, was wäre geschehen, wenn damals, gleich nach der Kreuzigung Jesu, jemand versucht hätte, aus der Jesu Geschichte ein Theaterstück gemacht zu haben. Ein solcher Schöpfer hätte sofort vor dem Problem gestanden, wie er diese Darstellung der Jesu Geschichte nennen sollte? Sollte sie „Komödie“ oder „Tragödie“ heißen? „Komödie“ oder „Lustspiel“ wäre sicher für eine so herzerschütternde Geschichte nicht geeignet gewesen. Schon das Wort „Komödie“ wurde nämlich vom Wort κώμος abgeleitet, was bedeutet: Schmaus, Gelage, Schwarm, ausgelassene Lustbarkeit, wem auch der Stil der Theaterstücke entsprach, die als Komödien betrieben wurden. Die Bezeichnung „Tragödie“, „Trauerspiel“ hätte gerade wegen der Rührseligkeit der Jesu Geschichte entsprechen können. Die wurde jedoch von den frühen Christen gar nicht für etwas jämmerlich Tragisches gehalten. Eher umgekehrt. Die Geschichte Jesu wurde, trotz des grauseligen Leidens und Todes Jesu für etwas Fröhliches gehalten. Sie wurde deswegen als „frohe Botschaft“, euangelion über unser Heil bezeichnet, denn die Geschichte Jesu wurde nicht als seine rein persönliche Angelegenheit gefasst, sondern als eine Geschichte, an der wir alle Anteil haben, denn in seiner Geschichte handelt es sich auch um unsere Geschichte. Nostra res agitur.
Keine griechische Tragödie hat das Heil verkündigt, und wenn schon, dann als etwas wie eine Andeutung des Heiles; und zwar im Fall von Oidipus, als der, auf Kolon, schon veraltet und von Qual niedergeschlagen, auf einmal von der Szene verschwand, als ob „ ihn ein Gottes Bote weggeführt hätte, oder unter der Erde ein Heim der Toten ihm freundlich geöffnet würde.“(2) Dieses „Wunderverschwinden“ von Oidipos hat jedoch mit der Auferstehung Jesu kaum etwas Gemeinsames. Und wenn es um das Wort „Tragödie“ selbst geht, es entstand im Zusammenhang mit dem Gott Dionysios. Der Geißbock, griechisch τράγος, war das begleitende Tier von Dionysios, so dass die Feiergesänge an Dionysios, die Dithyrambe genannt wurden, den Namen Geißbockgesang, τράγος-ώδη bekamen, also Tragödie.
Und so bleibt als einfache Tatsache, dass kein Christ in den ersten Jahrhunderten versuchte, aus der Geschichte Jesu ein Theaterstück zu machen. Diese Geschichte Jesu, dieses sein Evangelium, hat man verkündigen sollen. Ob es auch möglich wäre, sie zu spielen, das ist damals niemandem eingefallen.

5. Der Widerwille der frühen Christen gegen das Theater
Übrigens, wie die Christen in den frühen Jahrhunderten das damalige Theater und überhaupt die ganze damalige nichtchristliche Kultur der Unterhaltung beurteilt hatten, ist der Schrift De spectaculis des christlichen Schriftstellers und Denkers Tertullian zu entnehmen. Er schrieb diese seine Schrift etwa um Jahr 200 und er äußerte sich darin voll abweisend3 sowohl gegen das Theater, als auch gegen jede damalige Kultur der Unterhaltung. Alles, was damals zur Unterhaltung der Öffentlichkeit sowohl im Zirkus als auch im Stadion oder Amphitheater veranstaltet wurde, bezeichnete er als Idolatrie oder Unsittlichkeit.
Jemandem könnte vielleicht einfallen, dass diese radikale Tertulian´s Ablehnung aller damaligen öffentlichen Unterhaltungsspiele eine Folge seines irgendwelchen Ressentiments, das die damals verfolgten Christen gegenüber ihren grausamen Verfolger und ihrer heidnischen Unterhaltungsweise pflegen konnten. Diese Vermutung hätte jedoch sofort der Kirchenvater Augustinus korrigiert, der schon zwei Jahrhunderte später geschrieben hat, und zwar in der Situation, als das Christentum und die Kirche seit dem Jahre 313 Freiheit hatten. In der Zeit, als Tertullian geschrieben hatte, hielten die Christen das Römische Reich für „die Hure Babylon“, während in der Zeit, als Augustinus geschrieben hat, genoss die Kirche die Freiheit und Gunst der öffentlichen Macht, so dass sich die Christen mit dem Römischen Reich schon identifiziert haben. Nichtsdestoweniger, auch trotz dieser tiefen Wende der öffentlichen Stellung der Kirche im Reich, unterscheidet sich die Augustinus Kritik der öffentlichen Kultur der Unterhaltung nicht von der Tertullians Kritik. Er begründete sie noch mit der Ansicht seines beliebten Philosophen Platon, der den Tragödien nicht gerade geneigt war, und den Komödien schon gar nicht.(4)
Man muss jedoch in Sicht haben, dass es zu dieser frühchristlichen Abneigung zum Theater aus dem Grund kam, dass es ein Bestandteil der damaligen heidnischen Kultur der Unterhaltung war. Auch die großen Schöpfer der Tragödien, und auch die Tragödien selbst, wurden nicht erwähnt. Sowohl Tertullian als auch Augustinus haben sie wahrscheinlich gar nicht gekannt. Das Christentum musste also auf ihr gründlicheres Kennenlernen noch ein Jahrtausend warten.
Warum so lange? Da außer dieser pauschalen Ablehnung des Theaters auf das Römische Reich der Einfall von Barbaren herbei strömte, die im Jahr 410 Rom ausgeplündert haben, womit im Rauch der Brandstätten der ganze westliche Teil des einmal berühmten Großreiches der Wölfin von Kapitol einstürzte. Als ob die Welt in das Uranfangschaos gestürzt hätte. Es bestand nur die Struktur der Kirche, die sich darum um wichtigere Dinge kümmern musste, als das Theater war, das man nicht mehr ablehnen musste, weil es einfach aufhörte zu existieren. Es taucht jedoch wieder in einer anderen Form auf, und zwar als PASSIONSSPIELE am Anfang des 14. Jahrhunderts; und zwar in der Situation von neuen Bangen und Wirbeln, die mit dem Gleichlauf von sieben Bedrohungen verursacht wurden, als ob sie sich ein Treffen gerade am Anfang des 14. Jahrhundert besprochen hätten.

6. Was verursachte, dass die Geschichte Jesu zum Theater wurde?
Die erste Bedrohung war der Bürgerkrieg, der damals auf der italienischen Halbinsel losbrach und der den Papst zwing, (1309) in französischem Avignon Zuflucht zu suchen. Das war jedoch eine Flucht vom Regen in die Traufe. Das Papsttum geriet in den Einfluss des herrschsüchtigen Königs Phillip des Schönen, womit die siebzigjährige sog. „Babylon Gefangenschaft der Kirche“ begann (1039 - 1377).
Die zweite Bedrohung begann damit, dass im Jahr 1337 der Krieg von Frankreich und England ausgebrochen ist, der dann zum hundertjährigen Krieg wurde.
Die dritte Bedrohung bestand dann in der ökonomischen Krise, die ein ganzes Dutzend von den wichtigsten europäischen Banken zersetzte.
Die vierte Bedrohung kam vom Himmel, der begann, mit dem Regen zu kargen, so dass mit dem Jahr 1300 ein Zeitraum von Missernten und Hunger kam.
Die fünfte Bedrohung waren dann drei außerordentliche kosmische Erscheinungen: zuerst ein Komet (1315), dann die Konjunktion des Saturns mit Jupiter (1325) und zum Schluss die totale Sonnenfinsternis (1341), was Erscheinungen waren, die eine bange Vorahnung des drohenden Unglücks erweckten.
Und das ließ auf sich nicht lange warten, als im Jahre 1347 die sechste Bedrohung zuschlug: die todbringende schwarze Pest, die die Bewohner von Dörfern und Städten in Hunderten und Tausenden holte.
Und als ob es noch nicht genug gewesen wäre, näherte sich vom Osten die siebte Bedrohung, und zwar die Invasion von islamischen Türken. Scharen von Flagellanten haben sich damals überall auf den Marktplätzen der menschlichen Siedlungen blutig gepeitscht, damit sie mit dieser Bußfertigkeit Gottes Strafen abwenden. Und gerade damals kam es dazu, dass im Jahre 1310 zum ersten Mal die Passionsspiele innerhalb der Kathedrale in Rouen(5) und 1347 dann auch außerhalb des Sakralraumes auf dem öffentlichen weltlichen Platz gespielt wurden. Damals wurde die Geschichte von Jesus von Nazareth aus einem lesbaren und hörbaren Text in ein Theaterstück zum Sehen umgestaltet.

7. Passionsspiele und Theater in der Atmosphäre der Renaissance
Die Passionsspiele wurden damals wahrscheinlich aus dem Grund veranstaltet, damit sie das Erbarmen des Himmels erbitten. Fragen wir, ob sie auch den christlichen Widerstand gegen das Theater durchgebrochen haben? Was die Passionsspiele selbst betrifft, wissen wir, dass das Pariser Parlament sie im Jahre 1548 verboten hat(6); zwar nicht wegen ihnen selbst, sondern eher wegen der beigemischten Szenen des anstößigen Charakters, die in sie infiltriert wurden. Dazu kam es jedoch nur in Frankreich, und - wie es schon bei solchen Verboten üblich ist – ganz ohne Wirkung.
Und was das sog. weltliche Theater betrifft, kann man sagen, dass die ersten großen modernen Schöpfer der Theaterstücke wie Lope de Vega (1562 - 1635), Shakespeare (1564 - 1616), Calderón de la Barca (1600 - 1681) und Molière (1622 - 1673), die ihre Dramen erst nach der Entstehung der Passionsspiele an der Wende des 16. und 17. Jahrhunderts geschrieben haben, hatten keine Probleme mit der Kirche, mit der Ausnahme von Molièr in Frankreich.(7) Sowohl die Passionsspiele als auch das Theater haben sich durchgesetzt.

8. Die Gefahr des Islams nährte indirekt die italienische Renaissance
Man muss noch zufügen, dass diese neuzeitlichen Schöpfer des europäischen Dramas schon davon gut gewusst haben, was Tertullian und Augustinus noch nicht kannten. Sie haben gewusst, wer Aischylos, Sophokles und Euripides waren und von welcher Bedeutung und Sinn die Tragödien waren, die sie geschafft haben.
Und es ist auch nötig zu sagen, dass sie es gewusst haben – erstaunlicherweise – gerade dank der islamischen Gefahr, die vom Osten das westliche lateinische Christentum bedrängte wie eine Gewitterwolke. Vor dieser sich nähernden Katastrophe flüchtete damals nach Italien aus dem griechischen Byzanz jeder, der flüchten konnte. Unter diesen Flüchtlingen waren auch griechische kirchliche Intellektuelle, wie z.B. Bessarion (1395 - 1472). Und die brachten mit sich wertvolle Handschriften der griechischen Philosophen und Schriftstellern, und damit brachten sie auch zur Entfaltung der italienischen Renaissance bei, die aus dieser Entdeckungen des griechischen heidnischen Geistes gelebt und profitiert hat und ohne die das moderne europäische Theater undenkbar wäre.
Übrigens, zum dritten muss man noch zufügen, dass selbst Dante Alighieri (1265 - 1321), der seine Göttliche Komödie noch in der Zeit des Hochmittelalters schrieb, lässt sich in ihrem ersten und zweiten Teil – bedenkt es nur! – von dem „heidnischen“ Dichter Vergilius begleiten. Dadurch, dass sich in seiner Göttlichen Komödie der mittelalterliche Christ Dante von dem altertümlichen lateinischen heidnischen Dichter Vergilius begleiten lässt, nimmt dieser mittelalterlichen Spitzendichter die italienische Renaissance in Andeutungen vor. In ihr steigt nämlich das christliche Bewusstsein des europäischen Menschen in seine vorchristliche Vergangenheit irgendwie herab, damit es kann, sich selbst vor allem als das menschliche, und dann auch als das christliche Bewusstsein verstehen. Im Volksmund gesagt: die heidnische kulturelle griechisch-römische Vergangenheit begann in die christliche religiöse Gegenwart des 15. Jahrhunderts durchzudringen und begann sie in Frage zu stellen und zu überprüfen. Mit der Sprache der Psychoanalyse gesagt: im Humanismus kam die italienische Renaissance dazu, was Sigmund Freud als „die Wiederkehr des Verdrängten“ bezeichnete.

9. Passionsspiele zwischen der „Tragödie“ und „Komödie“
Mit dieser „Rückkehr“ des griechischen und römischen Theaters haben auch die Passionsspiele zusammengehängt. Etwa aus ähnlichem Bangen, wie einmal in Ruen, entstanden die Passionsspiele im Jahre 1634 in Bayern in Oberammergau, wo sie die weltweit berühmte kultur-religiöse Tradition erreichten. Na und was unsere Heimat betrifft, ist hier, außer manchen anderen Orten, wo die Jesu Geschichte inszeniert wurde, Höritz mit seiner zweihundertjährigen Tradition ein eimaliges Phänomen. Es ist schon bemerkenswert, dass sie nicht aus dem Bangen vor der drohenden Gefahr entstanden sind, sondern aus der hiesigen Volksfrömmigkeit. Ihr Schöpfer war Paul Gröllhesl (1785 - 1864), der auf Grund der Evangelien und vor allem aus der Schrift des Kapuziner-Mönch Martin aus Kochem (1634 - 1712) die Textunterlage eines Passionsspiels geschaffen hat, das den Titel trug: Das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen mit dem Vorspiel Die Verkündigung der ersten Menschen in Paradise.
Diese erste Skizzierung bekam dann mit den Beiträgen von anderen Schöpfern, wie von Johann Ammann, Karl Landsteiner, Ludwig Deutsch, Jaroslav Vetešník und Jindřich Pecka verschiedene Formen.(8) Gemeinsam für sie aber war es, dass sie nicht nur die enge Geschichte des Jesu Martyriums, Todes und der Auferstehung dargestellt haben, sondern gemeinsam damit auch die universelle Bedeutung in der Heilsgeschichte, beginnend von Adam über die alttestamentlichen „Machttaten Gottes“, die die Ankunft des Heilands vorbereiteten. Diese Vorlagen, obwohl alle außer der persönlichen Geschichte Jesu auch die universelle Botschaft des Heiles dargestellt haben, trugen erstaunlicherweise in der Bezeichnung von Gröllhesl das Wort „Trauerspiel“, also „Tragödie“.
Aber in der Zeit des Kommunismus und nach seinem Fall kommt es zu einer merkwürdigen Änderung der Bezeichnung des Jesu Passionsgeschichte. Man kann es zuerst in der Theaterbearbeitung von Evžen Sokolovský betrachten, die 1965 in Brünn aufgeführt wurde und wegen des außerordentlichen Erfolgs sie verboten wurde. Dann drei Jahre später in der Bearbeitung von Jan Kopecký, die im Theater in Pardubice aufgeführt wurde, und zum dritten Mal in der Bearbeitung von Eva Tálská in Brünn im Theater Husa na provázku im Jahre 2000. In allen diesen Bearbeitungen handelt es sich nicht um eine Tragödie, wie in den Höritzer Passionsspiele, sondern um eine Komödie. Alle drei Inszenierungen tragen nämlich dieselbe Bezeichnung: Komödie über das Leiden und die berühmte Auferstehung des Herrn und Erlösers unseres Jesus Christus.
Warum diese Verschiebung von der Tragödie zur Komödie? Ich weiß nicht, wie diese Änderung diese Theaterschöpfer begründen würden. Ich kann nur vermuten, dass sie die Unangemessenheit der Kategorie „Tragödie“ gespürt haben, was ich voll mitteile. Dass also die „Komödie“ eine mehr angemessene Kategorie für die Geschichte wäre, die zugleich das zentrale Ereignis der Heilsgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechtes ist? Wenn wir aus der griechischen Theatergeschichte keine anderen Kategorien als diese zwei haben, dann - wenn wir beliebige von diesen zwei wählen, treffen wir nie ins Schwarze.

10. Weder Tragödie, noch Komödie, sondern Amnodie
Beachten wir diesen Unterschied in den Zielen, die den Charakter der Komödie, der Tragödie und der Passion bestimmen. Die Komödie will die Zuschauer amüsieren und unterhalten, und so sie aus der gewöhnlichen Langeweile des Alltags ausführen. Die Tragödie will ihre Zuschauer bewegen und damit in ihnen das bewirken, was Aristoteles katharsis genannt hat, also „Mitleid und Bange, die die Reinigung solcher geistlichen Bewegungen bilden“.(9) Die Passion ist jedoch die Erscheinung der evangelischen Botschaft über das zentrale Ereignis des Heiles des menschlichen Geschlechtes im Leiden, Tod und Auferstehung von Jesus von Nazareth, der damit zur Bekehrung aufruft. Diese drei Theatergenres: Komödie, Tragödie, Passion, haben auch drei verschiedene Ziele, die wir mit drei Wörtern ausdrücken können: Unterhaltung, Reinigung und Bekehrung; diese drei Wörter legen drei verschiedene Sinne dieser drei Theatergenres fest.
Ich frage also, ob wir statt den „Geißbock“ von Dionysos, mit dem die griechische „Tragödie“ verbunden ist, nicht ernst nehmen sollten, dass es in der Passion nicht um einen Geißbock geht, sondern um ein Opferlamm? Und weil das Lamm auf Griechisch άμνός heißt, dann kann die Passion weder ein „Geißbock“ sein, also eine Tragödie, noch ein ausgelassenes Lied, also eine Komödie, sondern ein Lammeslied, ein Lammesgesang, also: Amnodie. Die Geschichte Jesu ist also weder eine Tragödie, noch eine Komödie, sondern eine Amnodie über das Leiden und die berühmte Auferstehung des Herrn und Erlösers unseres Jesus Christus. Amen.

(1) ŠPIDLÍK T.: Gregoire de Nazianze. Introduction á l’étude de sa doctrine spirituelle, Roma 1971, S. 1 – 8; DANIÉLOU J.: Message évengelique et culture hellenistique aux II. et III. sièles, Desclée, Tournai 1961; ARNOU R.: La contemplation chez les Anciens philosophes du mondegréco-romain, in: Dictionnaire de spiritualité, Band II., Beauchesne, Paris 1953, Absatz 1716-1742; SKALICKÝ K.: Otázka teorie a praxe. Tomáš Špidlík o Řehoři Naziánském, in: Studie 31-32/1972, S. 905-909.

(2) SOFOKLÉS TRAGÉDIE, Svoboda, 1975, S. 318.

(3) TERTULLIANUS: De spectaculis. Der latinische Text zusammen mit der tschechischen Übersetzung durch Petr Kitzler sieh in: O hrách, OIKOYMENH, Praha 2004.

(4) AUGUSTINUS: De civitate Dei (Liber II., caput IV.: „An forte Graeco Platoni potius palma dandaest, qui cum ratione formaret, qualis esse civitas debeat, tamquam adversarios veritatis poetas censuit urbe pellendos? Iste vero et deorum iniurias indigne tulit et fucar icorrumpique figmentis animos civium noluit.“) Und an einer anderen Stelle bedauert er, dass „ludorum scaenicorum delicata subintravit insania“ (viz: Liber I., caput XXXII.)

(5) DANIEL ROPS: Storia della Chiesa del Cristo, vol. III., La Chiesa delle cattedrali e delle crociate, Marietti, Torino-Roma, 1959, S. 690

(6) DANIEL ROPS: Storia della Chiesa del Cristo, vol. V-1, La Chiesa del tempi classici, S. 268.

(7) DANIEL ROPS: Storia della Chiesa del Cristo, vol. V-1, S. 268.

(8) PALKOVIČ J. – JANOUŠEK I.: 200 let Hořických pašijových her – 200 Jahre Höritzer Passionsspiele, Kláštery, Český Krumlov 20016, S. 10 – 39; Diplomarbeit (nicht publiziert): TOBOLKOVÁ M.: Hořické pašijové hry, Philosophische Fakultät der Karlsuniversität Prag, Lehrstuhl für Theaterwissenschaft, Prag 2003, S. 12 – 38.

(9) ARSTOTELES: Poetika, Jan Leichter, Praha 1948, S. 33.

Über den Autor

Mons. Prof. ThDr. Karel Skalický wurde 1934 in Hluboká nad Vltavou geboren.

Er ist tschechischer römisch-katholischer Theologe und Geistlicher, Hochschulpädagoge und auch ein Teilnehmer des aktiven Kampfes im Exil gegen das kommunistisch totalitäre System.

Er emigrierte nach Rom und hielt dort Vorlesungen in Theologie an der Lateran Universität. Seit 1967 redigierte er die Exilzeitschrift Studie.

Im Jahre 1994 begann er im tschechisch akademischen Rahmen wieder Vorlesungen ab zuhalten. Als Professor und Lehrstuhlinhaber der Systematischen Theologie wirkt er an der theologischen Fakultät der Südböhmischen Universität in Budweis (České Budějovice), wo ihm von 1996-1999 das Amt des Dekans anvertraut wurde. Die Südböhmische Universität würdigte ihn im Jahre 2013 mit dem Titel eines emeritierten Professors.

Im Jahre 2006 verlieh ihm der Präsident der Tschechischen Republik den Orden Tomáš Garrigue Masaryk für hervorragende Verdienste um den Staat in den Bereichen Entwicklung der Demokratie, Humanität und Menschenrechte.

 

Zdroj - Wikipedie: Otevřená encyklopedie: Karel Skalický [online]. c2016 [citováno 16. 03. 2017]. Dostupný z WWW: <https://cs.wikipedia.org/w/index.php?title=Karel_Skalick%C3%BD&oldid=14306567>